History

Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit – es lohnt sich …

 

HOL‘ ÜBER FÄHRMANN – Heinrich  Schepergerdes – Hotel „Am Wasserfall“ – Hanekenfähr

 

 

Er hat den Fährmann zu seinem Begleiter ausgewählt, den, der lange vor seiner Zeit die Menschen von einem Ufer der Ems an das andere gebracht und dem Ort seinen Namen gegeben hat. Aufrecht stehend, seinen Blick in die Ferne gerichtet, stakt der Fährmann in seinem Nachen über das Wasser. Ob in roten Sandstein gehauen, als schwarz-weiße Kohlezeichnung auf eine Reklametafel an die Fassade gehängt oder als stilisiertes Logo auf Wegweisern, Werbeprospekten und der Speisekarte: Auf „Hanekenfähr“ im Hotel „Am Wasserfall“ ist sein Bild allgegenwärtig.

 

„Wir waren Heuerleute früher. Das gibt es heute gar nicht mehr“, beginnt der Mann mit dem kurz geschorenen weißen Haar und dem freundlichen Lächeln im Gesicht zu erzählen. Er winkt der Bedienung, die schnell das festliche Gedeck entfernt und Kaffee und Wasser vor uns auf die steif gebügelte weiße Leinentischdecke stellt, während er fortfährt. „Das Land gehörte zum Gut Haneken. Wir haben so sieben, acht Hektar landwirtschaftliche Fläche bearbeitet und mussten darüber hinaus dem Gutsbesitzer bei der Ernte mithelfen.“ Ein Sektkorken knallt, Gläser klingen, fröhliches Stimmengewirr dringt in unsere Ecke. Eine Damengruppe feiert im Saal nebenan einen runden Geburtstag. Er steht auf und zeigt auf ein Bild an der Wand. „Da haben wir früher drin gewohnt.“ In seinem dunkelblauen Sweatshirt und den Jeans, die in schwarzen Gummistiefeln stecken, wirkt er in diesem eleganten Salon wie ein Fremdkörper. Wir – das sind seine Großeltern und seine Eltern. Er – ist Heinrich Schepergerdes, der Herr des Hotels „Am Wasserfall“, und er trägt Gummistiefel, weil er gerade Bittersalz auf den Rasen rund um das Hotel gestreut hat.

In dem Bilderrahmen steckt ein vergrößertes sepiafarbenes Foto von einem einfachen, spitzgiebeligen Haus, mit einem Stall dahinter und einer Veranda davor. Nebenan auf der Terrasse stehen ein paar Tische und Stühle aus Holz, und zusammen mit den typischen Reklameschildern an der Hauswand fügt sich alles zu dem Bild eines kleinen Gasthofes. „Das hier hat mein Opa neu gebaut. Das war schon ein besseres Wohnhaus. Aber begonnen hat die Geschichte in dem alten Heuerhaus. Beim großen Emshochwasser 1946 stand es eineinhalb Meter unter Wasser.“

Es ist nicht einfach, die Gäste in dem festlichen geschmückten Saal nebenan auszublenden, überhaupt den ganzen Hotelkomplex, die Rezeption mit ihren glänzenden Böden aus Marmor und den schweren Teppichen, die 86 Zimmer, sieben Tagungsräume, den Pool und die Sauna, die beiden Restaurants, das Extra-Abendlokal, die Terrassen draußen – und statt dessen dem kleinen Jungen von früher in eine Zeit zu folgen, in der hier lediglich ein kleines Haus mit Wänden aus Lehm ohne Strom- und Wasseranschluss stand. In der es Getreidefelder und Wiesen gab sowie „eine herrliche Heidelandschaft“, wie er sagt, und sein Großvater in der Ems so viele Lachse fing, dass er von dem Erlös die Heuerstelle kaufen konnte. „Aber Gastronomie hatten wir damals auch schon“, fällt Schepergerdes ein und er erzählt, wie die Großmutter den Männern, die mit ihren Treidelpferden die Lastschiffe im Fluss stromaufwärts zogen, Schnaps ausschenkte und ihnen ein Brot servierte. Dann wurde der Kanal gebaut, er nahm ihnen Land und brachte Geld, denn die Bauarbeiter waren hungrig und durstig. Das neue, größere Haus wurde gebaut und nach dem Krieg und dem Tod der Großeltern übernahmen seine Eltern den Betrieb mit Landwirtschaft und Gastronomie. „Einfach war das nicht“, erinnert er sich nachdenklich. „Morgens um fünf Uhr habe ich mit meiner Mutter die Kühe gemolken, dann musste ich die schweren Kannen mit dem Fahrrad an die Brücke bringen, und dann ging es in die Schule. Wenn ich da an meine Enkel denke.“ Denen würde heute keiner eine solche harte Arbeit zumuten, auch Schepergerdes nicht. Aber sie sollten es ja auch besser haben – und dieses Ziel hat er erreicht.

Wir überspringen ein paar Jahre in der Familiengeschichte und treffen den jungen Heinrich Schepergerdes im Jahre 1966 wieder. Er ist 23 Jahre alt, beim Forstamt fest angestellt und frisch verheiratet mit Maria, die auf dem Hof mithilft, als seine Eltern kurz hintereinander sterben. Nach dem Ältestenrecht erbt er den Hof, er ist sich nur nicht sicher, ob er ihn haben will. Zwei Jahre lang nimmt er sich Zeit für die Entscheidung. Mal überzeugen ihn die Arbeitskollegen zu bleiben, mal lockt die Chance, als sein eigener Herr auf Hanekenfähr mehr Geld verdienen zu können. Im Sommer ist auf der kleinen Terrasse viel Betrieb, aber es sind nicht nur die Familien, die sich beim Schwimmen unterhalb des Wasserfalls im Emswasser vergnügen. Auf dem Gelände ist ein kleiner Campingplatz mit neuer Kundschaft entstanden. Vor allem aber hat sich die gegenüberliegende Kanaluferseite verändert. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden von Lingen aus Erdöl- und Erdgasvorkommen erschlossen, riesige Industriegebiete breiteten sich aus, und keinen Kilometer Luftlinie von Hanekenfähr entfernt war auf dem ehemaligen Gut Haneken ein Kernkraftwerk entstanden. Ein Glücksfall, wie Schepergerdes es auch heute noch beurteilt. „Es waren immer Leute zum Mittagessen da, auch schon vorher in der Bauphase“, begründet er seine positive Einstellung zur Nachbarschaft mit der Atomenergie. Er lebt damit – und davon. „Wenn wir ausreichend andere Energiequellen hätten, wäre das kein Thema, aber wir haben ja nichts“, er zuckt mit der Schulter, man muss sich abfinden.

Die Entscheidung für Hanekenfähr erweist sich als richtig, und ein paar Jahre später ist es wieder der Kanal, der seiner Familie zusätzliche Einnahmen bringt. Mit einer vergrößerten neuen Fahrt und zwei Sperrtoren, die gleichzeitig als Schleuse genutzt werden können, rückt der Kanal näher an ihren Gasthof heran und bietet den Gästen auf der Landzunge ein Inselerlebnis. Dieses Mal benötigt Heinrich Schepergerdes keine zwei Jahre für die Entscheidung. Mit seiner Frau ist er sich einig, ein Hotel zu bauen. Kein ganz großes, nur ein Neubau mit 6 Fremdenzimmern. „Die ersten Entwürfe waren in bäuerlichem Stil gehalten. Aber dann haben wir uns für etwas ganz Modernes entschieden. Mit viel Beton, so wie es in den 70ern üblich war.“ Die inzwischen sechsköpfige Familie beschränkt sich auf zwei Zimmer, gegessen wird in einer Ecke in der Hotelküche. „Nicht berauschend“, stellt er fest, „aber die Finanzierung war bis zum Letzten ausgereizt.“ Bei der Gründung läuft aber erst einmal alles schief. Auf dem Fließsand der Ems lässt sich der Boden nicht verdichten, so muss auf zwei Meter Tiefe alles ausgehoben und durch anderes Material ersetzt werden.“ Insgesamt ist das Haus 80 000 Mark teurer geworden. Die Bank wollte mir kein Geld mehr geben. Aber zum Glück haben wir noch eine Brauerei gefunden, die eingesprungen ist. Sonst …“ Heinrich Schepergerdes verliert sich einen Moment in der Erinnerung an diese schwierige Zeit, dann stiehlt sich ein Lächeln in sein Gesicht und seine Augen blitzen fröhlich. „Aber wir haben einen fantastischen Sommer gehabt und alle wollten nach Hanekenfähr.“ Die Freude ist nicht von Dauer. Im November/Dezember 1973 führt das Fahrverbot auf Autobahnen an vier aufeinander folgenden Sonntagen zu nicht einkalkulierten Einnahmeverlusten, das Kernkraftwerk wird nach einem Schaden stillgelegt und ihm wird klar, von wie vielen, nicht von ihm beeinflussbaren Faktoren er im Gastgewerbe abhängig ist.
Nicht nur Heinrich arbeitet hart. Seine Frau Maria steht jeden Morgen um halb fünf auf und bereitet den Gästen das Frühstück. Erst nachmittags kann sie sich ein wenig ausruhen, bevor die Arbeit abends bis um Mitternacht im Hotel weitergeht. Aber sie haben auch wieder Glück, wie sie es sehen. Am anderen Kanalufer entstehen zwei Gaskraftwerke und 1988 wird ein neues Kernkraftwerk in Betrieb genommen. Bauarbeiter, Monteure, Ingenieure und später Vertreter und Aufsichtsräte übernachten, essen und trinken im Hotel „Am Wasserfall“. Zwar verlassen in dieser Zeit, in die auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fällt, viele Dauergäste den Campingplatz, aber im Hotel werden nur selten Zimmer wegen des Kernkraftwerkes nebenan storniert. Zu schön ist die Idylle, die Schepergerdes auf Hanekenfähr geschaffen hat. Die Gäste kommen nicht nur aus der Region, sondern auch aus dem Münsterland und vor allem aus dem Ruhrgebiet. Ersparnisse steckt Schepergerdes konsequent in den Aus- und Umbau des Hotels. 

Der moderne Baustil bewährt sich, es werden mehr und geräumigere Zimmer geschaffen, Tagungsräume ergänzen das Angebot und ein weiteres Restaurant. Schepergerdes schmunzelt rückblickend. „Anfangs habe ich gedacht, so jetzt haben wir gebaut, das reicht fürs Leben. Aber das Investitionsrad hört nicht auf, sich zu drehen. Wenn die Zimmer 10, 15 Jahre alt sind, müssen die nicht nur neu gestrichen werden, da muss alles raus, Teppiche, Möbel, alles.“ Mitte der 80er Jahre erhält das Hotel ein neues, luxuriöses Entree mit einer großzügigen Treppenanlage. Darunter, einem Schrein gleich, in Stein gehauen, der Fährmann, als solle er auch weiterhin viele Gäste „Herüber holen“. Längst arbeiten Heinrich und Maria nicht mehr allein, die Zahl ihrer vollzeitbeschäftigten Angestellten wächst auf 70 an und Sohn Heinrich steigt, gut ausgebildet und mit vielen Erfahrungen, in das Unternehmen ein. Neben dem Campingplatz „Hanekenrast“, auf dem vor allem die Kanuten ihr Zelt gerne aufstellen, entstehen kleine Ferienhäuser. Vor dem Wasserfall bietet eine Steganlage Platz für durchreisende Boote. Für wenig Geld kann Schepergerdes ein Fahrgastschiff kaufen und auf Vordermann bringen. Auch dieses Angebot spricht sich schnell herum, und schon bald liegen drei Fahrgastschiffe draußen am Steg, die im Sommer den Gästen auf dem Kanal und vor allem der Ems die Schönheiten des Emslandes zeigen. 1998 zieht Heinrich Schepergerdes mit seiner Frau aus dem Hotel aus. Er hat einen alten Bauernhof gekauft, eine aus mehreren Häusern bestehende Hofanlage ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt. Aber auch hier gönnt er sich kein reines Privatleben: Das schönste Haus mit der originalgetreu restaurierten Diele, dem Emshof, bietet er samt Garten seinen Gästen für ihre Feiern an. Dass die Speisen und Getränke vom „Fährrestaurant“ des Hotels geliefert werden, versteht sich von selbst.

Das letzte wichtige Datum in der Geschichte der Familie Schepergerdes auf Hanekenfähr ist das Jahr 2005. Heinrich Schepergerdes wird Senior-Chef, er übergibt die Leitung des Hotels an seine beiden ältesten Söhne. „Man möchte natürlich auch, dass die Kinder bleiben“, bekennt er leise. „Aber Generationswechsel ist immer ein bisschen schwierig. Man sieht nur die Fehler, die guten Sachen sieht man nicht. Ich selbst habe ja auch genug Fehler gemacht, aber da war keiner mehr da, der mir das sagen konnte.“ Dass es ihm nicht leicht gefallen ist, den Stab weiterzugeben, lässt sich unschwer erkennen.

Die Stimmen von nebenan drängen heran, die Feier scheint sich dem Ende zuzuneigen, auch der Senior-Chef schaut unauffällig auf seine Uhr. Er spricht nicht gern über sich. Er ist sympathisch-bescheiden geblieben, braucht weder ein luxuriöses Auto noch eine Kreuzfahrt – wohl aber die Arbeit in seinem Hotel und das nicht nur, weil „das Geld nicht vom Himmel fällt.“ Während seine Frau inzwischen zu Hause bleibt, fährt er nach dem Frühstück zum Hotel und kümmert sich mit einigen Helfern um die Außenanlagen, ist sich nicht zu schade für die Drecksarbeiten, wenn im Winter renoviert wird. „Um vier Uhr mache ich Feierabend“, beschreibt er seinen Arbeitstag, „dann fahre ich nach Hause, mache ein bisschen Pause und um sechs Uhr fahre ich wieder hin – in Schlips und Kragen, ein bisschen gucken, dass alles läuft.“

Es sieht ganz danach aus, als ob er die Arbeit genießt. Er sieht aber auch so aus, als ob jetzt genug darüber geredet worden ist. Schließlich warten draußen noch zwei Schubkarren mit Bittersalz auf ihn – und vor allem Enkel Paul.

Auszug aus „Kanalgesichter – Menschen zwischen Dortmund und Emden“ v. Barbara Piotrowski
Erschienen 2008 Isensee Verlag ISBN 978-3-89995-545-3